Wo ist die Kultur der Aufmerksamkeit?

Entsetzen, Trauer, Empörung, Wut und Angst – die offenbar rassistischen, fremdenfeindlich motivierten Morde von Hanau am Mittwochabend lösten in ganz Deutschland fassungslose Reaktionen aus. Und immer wieder die bekannten gleichen Fragen: Wie konnte es dazu kommen? Warum in Hessen? Was kann man tun?

Nach Einschätzung des Leiters des Demokratiezentrums Hessen, Dr. Reiner Becker, ist Hessen nicht rechtsextremer als andere Bundesländer – trotz mehrerer Gewalttaten seit vergangenem Sommer. Gegenüber der Nachrichtenagentur dpa sagte er: „Man kann zwar sagen ‘schon wieder Hessen’, aber das ist jetzt nicht unbedingt etwas strukturell Spezifisches“. Doch könne es selbstverständlich ein subjektives Empfinden geben, dass Hessen ein größeres Problem mit Rechtsextremismus hat als anderswo.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz listet laut dpa in seinem Bericht für das Jahr 2018 Hessen mit 25 rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten auf. Im Bundesländervergleich bedeutet dies mit Blick auf die absoluten Zahlen den 13. Rang. Bei den Bevölkerungszahlen liegt Hessen im Bundesländer-Ranking auf Platz 5.

Schamvolles Schweigen und stilles Gedenken ist das Erste, was die rechtsextremistischen Morde von Hanau auslösen sollten … Fotoquelle: https://www.picuki.com/tag/prayforhanau

„Was wir leider im Moment erleben ist, dass die Hemmschwelle von der angekündigten Tat, von der verbalen Aggression hin zu solch schrecklichen Gewalttaten anscheinend immer niedriger wird. Mit den bitteren Konsequenzen“, mahnte Becker.
Es gebe nicht mehr die harte sichtbare rechtsextreme Szene wie früher mit erkennbaren Kameradschaften oder einer öffentlich aktiven NPD. Man dürfe sich Rechtsextremismus heute nicht nur als das geschlossene ideologische Weltbild vorstellen, mit nach außen zur Schau getragenen Radikalisierung, so Becker. „Das war er noch nie.“ Die ideologischen Versatzstücke des Rechtsextremismus seien bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitet.

Äußerungen im Netz und die seit dem Sommer 2015 verstärkte Stimmungslage bei vielen Menschen, die man zwar nicht per se als rechtsextrem bezeichnen könne, aber die ihre rassistischen Einstellungen hätten, müssten ernst genommen und „dringend notwendig“ stärker in den Blick genommen werden.

Gegenüber dem Inforadio des rbb plädierte Becker für eine „Kultur der Aufmerksamkeit“, um Gewalttaten im Vorfeld verhindern zu können. Diese sei sowohl auf der Alltagsebene als auch bei den zuständigen Sicherheitsbehörden gefragt.

Obwohl der mutmaßliche Täter nach den jetzigen Erkenntnissen nicht in der rechten Szene verwurzelt gewesen sei, sei er kein isolierter Einzeltäter. „Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass diese Menschen völlig isoliert im stillen Kämmerchen sitzen“, so Becker. Taten wie diese fänden ihre Vorbereitung in den sozialen Netzwerken. Dort träfen Gleichgesinnte aufeinander, so der Politikwissenschaftler. „Diese Taten geschehen nicht isoliert.“

In einem Interview mit hriNFO erläuterte Becker dazu weiter: Solche Taten „im öffentlichen Raum finden im virtuellen Raum ihre Vorbereitung“, wo sich die Täter aufgehoben fühlten. Es sei heute einfacher geworden, „sich über Regionen hinaus zu vernetzen, sich abzusprechen und zur Tat zur schreiten“. In sogenannten Echokammern verdichteten sich Vorurteile und Verschwörungstheorien, und nach den Taten würden diese ins Netz gestellt, wo sie wiederum auf Resonanz stießen.

Nach Auffassung Beckers sei es daher wichtig, „wesentlich dichter das Netz zu beobachten” und Verschwörungstheorien auch ernst zu nehmen. Das sei kein neues Thema, aber man müsse „sein Radar erweitern“. Allerdings sei die strafrechtliche Bearbeitung angesichts der großen Dimension relevanter Meldungen und Hinweise auf verdächtige Einträge ein großes Problem.