RIAS-Broschüre zum Antisemitismus rund um die documenta 2022: Es wurde eine dunkelrote Linie überschritten

24.2.2023

Die von diversen Antisemitismus-Vorwürfen überschattete „documenta fifteen“ voriges Jahr in Kassel hat bei Jüdinnen und Juden zu einem nachhaltigen Vertrauensverlust geführt. Dies ist die Kernaussage einer aktuell veröffentlichten Auswertung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS Hessen) mit Analysen und Gespräche zur documenta 2022 und Antisemitismus in Kunst und Kultur.

Cover der neuen RIAS-Broschüre zur documenta

In der rund 130 Seiten starken Broschüre ‘documenta fifteen – „Es wurde eine dunkelrote Linie überschritten“‘ finden insbesondere jüdische Stimmen und antisemitismuskritische Analysen zur „documenta fifteen“ Raum.

Hintergrund: Das Jahr 2022 war in Hessen auch geprägt von der „documenta fifteen“ und antisemitischen Vorfällen auf der und rund um die Kunstschau in Kassel. Ein Gutachterbericht einer Expert:innenkommission liegt seit kurzem vor. RIAS Hessen veröffentlicht nun, in Ergänzung, in der Publikation vornehmlich jüdische Perspektiven auf die „documenta fifteen“.

Unter den Autor:innen sind u. a. Julius H. Schoeps, Steffen Klävers, Stella Leder und Richard Chaim Schneider. Mit Natan Sznaider, Ben Salomo, Anna Staroselski und Samuel Salzborn wurden Interviews geführt.

Stimmen zu den Ereignissen auf der documenta und zur vorliegenden RIAS-Publikation:

Uwe Becker (Beauftragter der hessischen Landesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus)

„Der documenta-Sommer war ein Sommer der Schande. Von den Aktivitäten der antisemitischen BDS-Bewegung bis hin zu israelfeindlichen Stichwortgebern in Teilen von Kunst, Kultur und Wissenschaft führt ein rotes Band, das wir endlich als rote Linie definieren müssen. (…) Es braucht endlich einen gesellschaftlichen Konsens in der Ächtung gerade auch des israelbezogenen Antisemitismus, sonst wird sich die documenta fifteen an anderer Stelle wiederholen.“

Daniel Neumann (Direktor Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen)

„Seit der documenta fifteen sind einige Monate vergangen, doch der Flurschaden ist immer noch enorm. … Das Versagen der Verantwortlichen betrifft dabei nicht nur den offen zur Schau getragenen Antisemitismus, sondern hat auch der Kunst als solcher einen Bärendienst erwiesen.“

Tanja Kinzel (Bundesverband RIAS e.V.)

„Die antisemitischen Vorfälle im Kontext der documenta fifteen haben zu einem nachhaltigen Vertrauensverlust bei Jüdinnen und Juden geführt. Die von jüdischen Institutionen vor Ort geäußerte Kritik am Umgang mit Antisemitismus wurde als Befindlichkeit abgetan, ignoriert oder abgewehrt. Diese Nichtbeachtung jüdischer Kritik an antisemitischen Vorkommnissen ist charakteristisch für den Umgang mit Antisemitismus in der Öffentlichkeit. Während die mediale Aufmerksamkeit mit dem Ende der documenta fifteen nachgelassen hat, wirken die Folgen für die Betroffenen noch lange nach.“

Susanne Urban (Projektleitung RIAS Hessen)

„Die Analysen des Antisemitismus wurden auf und von der documenta zurückgewiesen, jüdische Stimmen beschwichtigt und überhört und es bleibt die Phrase der Antisemitismusvorwürfe. Dabei ging und geht es um konkreten Antisemitismus. Wir haben hier eine Divergenz in Perspektiven und Wahrnehmungen. Trotz aller Erinnerungsstrategien und Gedenktage findet hierzulande kein angemessener und aufrichtiger Umgang mit Antisemitismus statt.”

Stefan Raguse/Charlotte Brandes (RIAS Hessen)

„Auf der documenta fifteen gab es nicht nur antisemitische Inhalte in den Ausstellungen, die Kunstwerke haben darüber hinaus auch selbst Antisemitismus befördert. Die Werke der zeitgenössisch weltgrößten Kunstschau sowie der Diskurs darüber wirkten sich für Jüdinnen und Juden über Kassel hinaus aus, auch konkret im Privaten. Der Antisemitismus traf nicht nur Besuchende vor Ort, sondern jüdische Menschen in ganz Hessen auf der Arbeit, im Nahverkehr oder sogar im eigenen Hausflur. RIAS Hessen konnte 38 antisemitische Vorfälle im Zusammenhang mit der documenta fifteen dokumentieren.“

Stella Leder (Institut für neue soziale Plastik, Potsdam)

„Antisemitismus in der Kunst kann mit einfachen Mitteln verhindert werden: Kulturverwaltungen, die an der Besetzung von Leitungspositionen, Jurys oder Findungskommissionen beteiligt sind, müssen für die Besetzung dieser Posten mit antisemitismuskritischen Künstler:innen sorgen. Die Besetzung entsprechender Gremien ist eine der Aufgaben von demokratischer Kulturpolitik und Verwaltung – das ist kein Eingriff des Staates in die Kunst.“

Richard Chaim Schneider (Filmemacher, Buchautor, Journalist, bis 2022 ARD-Korrespondent & Editor-at-Large, seit 2021 Autor für “Der Spiegel” in Israel/Palästinensischen Gebieten)

„Nein, ich will solche antisemitischen Stereotypen nicht im öffentlichen Raum sehen. Sie sind mitverantwortlich dafür, dass Hunderte Menschen meiner Familie ermordet, meine Eltern in die Konzentrationslager gesteckt wurden. Es ist keine Neuigkeit, dass vor jedem Massenmord, jeder Vernichtung, die Entmenschlichung des angeblichen Feindes steht. Wort- und Bildsprache gehen der Tat voraus, sie bereiten sie vor, sie stimmen die Menschen darauf ein, was noch kommen soll.“

RIAS Hessen wird zudem demnächst einen eigenen Monitoring-Bericht zur „documenta fifteen“ mit genaueren Zahlen und Analysen vorlegen, der in vier bis acht Wochen ebenfalls auf der Website von RIAS Hessen als Download zur Verfügung stehen wird.

Erläuterung

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS Hessen) – in Trägerschaft des Demokratiezentrums Hessen an der Universität Marburg – erfasst und dokumentiert seit Frühjahr 2022 antisemitische Vorfälle in Hessen. Betroffene werden bei Bedarf an kompetente Beratungsstellen weitergeleitet. Die Dokumentation der Vorfälle bildet, in Absprache mit den meldenden Personen sowie anonymisiert, auch bei der Erarbeitung von Bildungsmaterialien eine Grundlage. Forschung zu und Bildung über Antisemitismus sind weitere Aufgabenfelder von RIAS Hessen.
Grundlage der Arbeit von RIAS Hessen ist die Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA).

Weitere Informationen

Dr. Susanne Urban: susanne.urban@rias-hessen.de
0151 24003697
www.rias-hessen.de


Quellen

>> zur RIAS-Pressemitteilung

>> documenta fifteen: Beispiele antisemitischer Vorfälle

> zum Download der Veröffentlichung documenta fifteen – „Es wurde eine dunkelrote Linie überschritten“ >> https://rias-hessen.de/wp-content/uploads/2023/02/documentafifteen_Antisemitismus_fin.pdf