Großes Medien-Interesse an Expertise des Demokratiezentrums

Was ist los in Hessen, und wie sind die Morde von Hanau einzuordnen? In den letzten Tagen wurde das Demokratiezentrum Hessen mit Medienanfragen überhäuft. Gleichzeitig formierten sich am Wochenende eindrucksvolle Solidaritäts- und Protestveranstaltungen auf den Straßen.

Das Interesse und der Erklärungsbedarf in der Öffentlichkeit sind nach den schrecklichen Morden in Hanau am vorigen Mittwochabend, die offenkundig auf einem kruden, rechtsextremistischen Weltbild fußten, (plötzlich) groß. Zahlreiche Medien fragten vorige Woche und am Wochenende beim Demokratiezentrum Hessen an der Uni Marburg nach einer Einordnung der Ereignisse nach – hier eine Auswahl  (siehe auch unten stehende Nachricht vom 21. Februar 2020):

Trotz Häufungen nicht hessenspezifisch – Hass kennt keine Grenzen

Dr. Reiner Becker im Interview mit Sat 1

Im Sat-1-Interview erklärte Dr. Reiner Becker, Leiter des Marburger Demokratiezentrums, dass Hessen zwar ein Rechtsextremismusproblem habe, aber es hier keine besondere Rechtsextremismus-Szene gebe, die klar sichtbar wäre. Die Szene sei heterogener geworden, und vieles spiele sich heutzutage (verborgen) im Internet ab.
Die stellvertretende Leiterin des Demokratiezentrums, Tina Dürr, sagte gegenüber der „Oberhessischen Presse“ dazu: „Die Brutalität zeigt sich immer offener.“ Dass Hessen jetzt jedoch sozusagen das Ostdeutschland des Westens wäre, wie manche meinen, stimme trotz der Taten-Häufung so nicht. „Rechtes Gedankengut und rechte Vernetzung enden nicht an Landesgrenzen.“

Erkennbare Entwicklungen

Gegenüber der „Hessenschau“ erläuterte Reiner Becker die Entwicklungen in der Vergangenheit: „Spätestens seit Anfang der 1980er-Jahre wissen wir, dass Tendenzen wie Rechtsextremismus und Antisemitismus weit in der Mitte der Gesellschaft verbreitet sind. Neu ist, dass mit Hilfe der sozialen Netzwerke die Büchse der Pandora geöffnet wurde. Und damit sind wir täglich konfrontiert.“

Und auf n-tv ergänzte er: „Wir erleben eine neue Qualität von Hass, seitdem sich die Gesellschaft 2015 stark polarisiert hat. Wir finden erstarkten Rechtspopulismus vor, bei dem die Übergänge zum Rechtsextremismus teilweise fließend sind.“ Die Tat von Hanau gehöre als schrecklicher Baustein in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. „Die ehemaligen Nazis sind ja nicht einfach verschwunden.“ Rechtsextreme Parteien und Organisationen gebe es seit dem zweiten Weltkrieg durchgängig in unserem Land.

Es gebe eine Anfälligkeit für eine rechtsextreme Ideologie. Aus Studien wisse man, dass Aussagen zu Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Rassismus bis heute immer wieder hohe Zustimmung bei den Deutschen finden. Aber: „Wir wollen uns das Ausmaß rechter Gesinnung und Gewalt in Deutschland in seiner Massivität immer noch nicht eingestehen.“ Die Gesellschaft drifte auseinander. In den Parlamenten würden heute Weltbilder vertreten, von denen man lange nicht für möglich hielt, dass sie wieder salonfähig sein könnten. „Wir müssen uns klarmachen: Die Demokratie und das System, in dem wir groß geworden sind, sind nicht selbstverständlich.“

Mitverantwortung von Teilen der AfD

Gegenüber dem „Hessischen Rundfunk“  sagte Becker dazu: „Ich denke, ein Teil der AfD trägt dazu bei, dass sich das gesamtgesellschaftliche Klima so polarisiert und zugespitzt hat. Die AfD ist eine sehr heterogene Partei, aber sie hat einen Flügel, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird und dessen Aussagen wir alle kennen. Das führt möglicherweise dazu, dass sich jemand bestätigt fühlt in dem, was er plant und was er macht. Der Bundesfraktionsvorsitzende Alexander Gauland führte das Attentat auf Wahnvorstellungen zurück. Ich finde, das ist eine typische Verschiebung, eine Verharmlosung der Tat. Wir wissen nicht, ob der mutmaßliche Täter psychisch krank war. Was wir aber wissen – das zeigen die Dokumente und natürlich auch die Wahl der Opfer – ist, dass der vermutliche Täter eine eindeutig rassistische, rechtsextreme Weltsicht aufgewiesen hat.“

Was kann man politisch und persönlich tun?

Nach Ansicht Beckers (s. o. hr-Interview) werden die Parteien im Bundestag nicht daran vorbeikommen, sich noch einmal sehr zentral damit auseinanderzusetzen, welche Wähler sie wie und warum an die AfD verloren haben. „Man hat sich vorher jahrelang damit abgefunden, dass die Wahlbeteiligung gesunken ist. Jetzt steigt sie wieder und der Profiteur ist die AfD. Da muss man sich kritisch die Frage stellen: Warum haben wir viele Menschen nicht mehr erreicht?“

Man  müsse aber an „vielen Stellschrauben drehen“, um Rechtsextremismus entgegenzutreten und ihm vorzubeugen. „Wir sollten unter keinen Umständen wegsehen, wenn wir in unserem Alltag auf Menschen mit rechtem Gedankengut treffen.“ Wenn sich die Menschen im eigenen Umfeld gegen Rassismus stellten, demokratisch und offen seien, könne das einen ideologisierten, gewaltbereiten Menschen eher daran hindern, so etwas wie in Hanau zu tun.

Eindrucksvolle Kundgebungen und Demonstrationen

Demo in Marburg

Während Politiker ausführlich diskutieren, haben Menschen in ganz Hessen und deutschlandweit nach den rechtsterroristischen Morden in Hanau ihre Solidarität und „Gesicht gegen rechts“ gezeigt. Allein in Marburg (siehe Fotos, Quelle: Demokratiezentrum Hessen) fanden sich am Samstagmittag unter dem Motto „#wir stehenzusammen“ schätzungsweise 4.500 Menschen zu einem Gedenkmarsch durch die Stadt und einer anschließenden Solidaritätskundgebung auf dem Marktplatz zusammen. Zuvor waren die traditionellen närrischen Erstürmungen des Landratsamtes sowie des Marburger Rathauses wegen der Ereignisse in Hanau abgesagt worden. Schon am Donnerstagabend zuvor hatten sich in Marburg etwa 1.100 Menschen an einer spontanen Mahnwache beteiligt. In Hanau selbst nahmen am Samstagnachmittag 6.000 Menschen an einer Kundgebung gegen rechtsextremen Hass und Hetze teil, und am gestrigen Sonntag demonstrierten dort noch einmal bis zu 10.000 Menschen – ein gutes, eindrucksvolles und notwendiges Zeichen der Zivilgesellschaft!

Quellen: